

Elemente der Architektur: FENSTER
Die "elements of architecture" wurden in der kürzlich zu Ende gegangenen 14. Architekturbiennale von Venedig eingehend herausgestellt und untersucht. Aber bereits in den späten 70-er Jahren veröffentlichte der Verlag Niederösterreichisches Pressehaus eine Reihe mit dem Titel "Elemente der Architektur"*. Insgesamt vier Bände erschienen 1978/79. Schmale Büchlein, zurückhaltend gestaltet, mit Schwarzweißfotografien von Johann Kräftner und Texten österreichischer Schriftsteller. Die vier Elemente der Architektur heißen in dieser Reihe: TÜR + TOR mit Jutta Schutting, FENSTER mit Getrud Fussenegger, INNENHOF mit Peter Rosei und DÄCHER mit Peter Daniel Wolfkind. Die Autoren sind allesamt Dichter, Romanciers, Essayisten, keine Techniker oder Architekten und auch keine Wissenschaftler oder Historiker. Sie betrachten und beschreiben die räumlichen Elemente zwar geschichtlich und typologisch, aber darüberhinaus auch hinsichtlich ihrer psychologischen Wirkung und auf poetische Weise. Das ist besonders.
Im hier gezeigten Band II über Fenster finden sich Sätze von Gertrud Fussenegger (1912-2009) wie:
"Es ist d a s Element, in dem sich der Baukörper mit dem Freien einläßt, mit Licht, Luft, Ausblick, fallweise auch mit Einblick, mit Umwelt also, Gesellschaft, Natur. Man könnte auch sagen: Das Fenster ist die Membrane, durch die das Private und Definite mit dem Allgemeinen und Indefiniten kommuniziert." (S. 6)
"Eine Begegnung im Freien ist eine andere als die im geschlossenen Raum, eine Bewegung in einer Tür eine andere als die in einem Fenster. Dort ist Unmittelbarkeit gegeben (...). Das Fenster schafft jeweils gebrochenen Situationen, es wahrt stets ein Stück Ferne, damit Geheimnis und Spannung. (…) Das Fenster potenziert also den Eindruck, des Lieblichen und des Verabscheuungswürdigen.“ (S. 15).
Fussenegger zeichnet die Zusammenhänge der Fensteranordnung und der Entwicklung von Religion, Staatsform und Kultur nach. In der Renaissance und im Barock wurden Fenster regelmäßig und symmetrisch angeordnet. "Das hat tiefe Gründe", meint Fussenegger: „Die sich in jener Zeit langsam anbahnende Systematisierung des staatlichen Lebens, der Einfluß des römischen Rechts, aber auch der wachsende Wohlstand legten es dem jeweiligen Bauherrn nahe, sich in diesem Sinn zu repräsentieren. (..) Man konnte sich freier und stolzer geben; man dehnte die Baukörper in die Breite, besetzte sie mit langen Fensterreihen und denkt nicht mehr in Einzelräumen, sondern in Raumfolgen." (S.12)
Die Verdrängung der traditionellen Lochfassade durch „Stahlbau- und Fertigteil-Technik“ werden von Kräftner als Fotograf völlig ignoriert. Es findet sich keine Abbildung von Fenstern, die jünger als 100 Jahrealt wäre. Fussenegger beschreibt in ihrem Schlußwort, die „Lichtbessenheit“ der Menschen. Ein grenzenloses Verlangen nach Licht und Unbeschränktheit, grenzenloser Information und ungebremster Mobilität sei jedoch ein eher bedauernswertes gesellschaftliches Phänomen. Der Wunsch nach "dem enger begrenzten, in sich gegliederten, womöglich eingelaibten Fenster" entspreche dabei ihrer Auffassung nach vielmehr einem tiefen elementaren Grundbedürfnis des Menschen.
* Was genau ein architektonische Grundelement sei, wird von Dipl. Ing. Elena Kossovskaja an der TU München, Fakultät für Architektur, Professur für Architektur- und Kulturtheorie, untersucht. Sie zählt in einem kurzen abstract gängige Definitionen aus den letzten Jahrhunderten auf:
Leon Battista Alberti, 1452, 6 Elemente der Architektur: Gegend, Grund, Einteilung (GR), Mauer, Decke, Öffnung
Gottfried Semper, 1851, 4 Elemente der Architektur: Herd, Dach, Wand, Aufschüttung
Le Corbusier, 1928, 5 Elemente der Architektur: Pilotis, freie Fassade, freier Grundriss, Langfenster, Dachgarten
Diese Aufzählung kann also ergänzt werden mit
Johann Kräftner, 1978, 4 Elemente der Architektur: Tür + Tor, Fenster, Innenhof, Dächer
Rem Koolhaas, 2014, 15 Elemente der Architektur: floor, wall, ceiling, roof, door, window, facade, balcony, corridor, fireplace, toilet, stair, escalator, elevator, ramp
Die österreichische Schriftstellerin Gertrud Fussenegger (1912-2009) verfaßte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte. Fussenegger hatte in Innsbruck und München Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie studiert.
Dr. Johann Kräftner (* 1951) studierte Architektur, Kunstgeschichte und Denkmalpflege und promovierte über "Das österreichische Bürgerhaus, Typen und Elemente - mit einem Exkurs über das Bürgerhaus in der Kunstliteratur des 16. bis 19. Jahrhundert". Heute ist Kräftner Direktor der Fürstlichen Sammlungen Liechtenstein in Wien und Vaduz.
Johann Kräftner und Gertrud Fussenegger: Fenster, St. Pölten 1979
(jb)